Segestria florentina/Beobachtungen/Schlegel W

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Persönliche Beobachtungen von Schlegel, Wolfgang zu Segestria florentina

Alle Beobachtungen stammen von Tieren vom Neckarufer in Stuttgart (Baden Württemberg). Diese Beobachtungen führten zur Meldung des dritten Fundes für diese Art in Deutschland. Die vorliegende Dokumentation beginnt im Juli 2012 und endet im September 2012.

Fundumstände

In der Nacht zum 14.07.2012 zeigte die nähere Betrachtung einer Betonwand am Stuttgarter Hafen in winzigen Lücken die für Segestriidae charakteristischen, kleinen Netze. Ca 20 cm weiter in einem Spalt hinter einem Rattengiftköderbehälter wird ein großes Tier entdeckt, dass später als Segestria florentina identifiziert werden konnte.

Nach eingehender Untersuchung der Umgebung stellt sich heraus, dass dort eine ganze Kolonie mit mindestens 12 großen (maximal 18 mm) und etlichen heranwachsenden Tieren lebt. Mit Futter oder einem Grashalm lassen sie sich herauskitzeln und auch einfangen. Das Portrait zeigt den grünen Metallic-Effekt auf den Chelizeren. In der Folge wird die Kolonie bis zum Herbst regelmäßig besucht. Die Beobachtungen sind hier zusammengestellt.

Nach Roberts sind reife Weibchen ab 13 mm lang, sodass dieses Tier wahrscheinlich noch wächst. Bei ausgewachsenen Weibchen sollte die Opisthosoma-Zeichnung noch stärker ins Schwarze gehen.

Der Fundort

Möglicherweise ist die ganze Kolonie das Ergebnis des Landgangs eines einzigen, befruchteten Florentiner-Weibchens. Die Ausbreitung scheint auf ca. 15 Quadratmeter beschränkt zu sein. Bei den Jungtieren, die dort nisten, bleibt die Artzugehörigkeit anfangs im Unklaren. Es bleibt abzuwarten, ob sie hier den Winter überstehen können. Immerhin hält bei Aldingen am Neckarufer ein Feigenbusch seit mindestens zehn Jahren die Stellung, so dass es nicht völlig aussichtslos erscheint.

Der Literatur ist zu entnehmen, dass Segestria florentina in Südengland und Wales gewöhnlich bei Häfen vorkommt. Die Art ist weitverbreitet in Europa mit Ausnahme des hohen Nordens und überall gerne mit Häfen vergesellschaftet (Roberts). Das lässt einen Rückschluss auf das Lieblings-Verkehrsmittel zu. Wenn vor der Stuttgarter Kolonie ein Frachtschiff anlegt (und dort legt oft ein Frachtschiff an), ist nur eine Distanz von 2-3 Metern zu überwinden, um auf das Boot zu gelangen. Da alle Individuen, die in der Kolonie gesehen wurden, unterhalb der theoretischen Maximalgröße bleiben, ist anzunehmen, dass alle Jungtiere aus diesem Jahr sind. Die geringe Ausdehnung der Kolonie spricht auch dafür, dass sie noch nicht sehr lange existiert. Über die Frostempfindlichkeit der Art ist dem Autor nichts genaues bekannt. Am Standort ist es für die Spinne jedenfalls schwierig, sich in frostfreie Tiefen einzugraben. Im Winter 2011/2012 fielen dort die Temperaturen deutlich unter -10 Grad. Allerdings befinden sich beheizte Gebäude in einer Entfernung von höchstens 15 m.

Am unten gezeigten Poller beginnt die Kolonie. Hier ist ein ausgewiesener, viel genutzter Schiffsparkplatz (blaues P-Schild, beschilderter Ausgang zur Straße), manchmal liegen Kähne das ganze Wochenende fest, und somit ist das genau die Stelle, an der man eine solche Kolonie erwarten sollte. Da das Gelände sehr übersichtlich ist, ist gut festzustellen, wo die Kolonie aufhört. Die meisten Spinnen leben in den Fugen des Verbundpflasters, das sich direkt am Ufer über der Spundwand findet. Einige nutzen auch Spalten unter oder hinter Rettungsring-Behältern, Leitern, Rattengift-Kästen und einer Holztreppe. Die kleinsten findet man selbst in kleinen Eintiefungen auf Betonflächen. Über die Gleisanlagen sind sie nicht hinweggekommen. Im Schotter des Gleisbetts werden Anfang August immerhin drei kleinere Tiere festgestellt, die dort sechs Wochen später nicht mehr zu sehen sind. Ans Gleisbett schließt sich landseitig eine große Montagehalle an, deren Wand bis auf wenige flache Fugen ziemlich glatt ist. Daran ist keine einzige Segestria zu finden. In der Wand gibt's auch Tore, die ab und zu im Sommer längere Zeit offenstehen. Falls eine Segestria es da hinein schafft, wird sie im Winter nicht erfrieren. Ansonsten ist diese Halle ziemlich abgedichtet.


Bestandsentwicklung

Die großen Spinnen sind so gut wie sessil. Viele scheinen seit Juli an exakt derselben Stelle zu sitzen. Am 3. August (auf der Skizze grün markiert) und am 11. September (rot markiert) wurden die Ausdehnungen des besiedelten Gebiets abgemessen und eine Zählung (Zahl in den Kreisen) vorgenommen. Gezählt wurden alle Spinnen, die nachts in ihren Netzen aus Stehhöhe bequem zu erkennen waren. Es fehlen also alle Spiderlinge und alle anderen, die nicht direkt sichtbar waren. Es zeichnet sich eine leichte Vermehrung ab. Die Außengrenzen der Kolonie wurden allerdings nur in einer Richtung um etwa vier Meter ausgedehnt. Mit dieser Ausbreitungsgeschwindigkeit von 4.27 * 10-6 km/h würden sie etwas über 180 Jahre brauchen, um z.B. die Stuttgarter Universität Hohenheim zu erreichen. Mit hoher Sicherheit sind alle Tiere der Kolonie im Stuttgarter Hafen Segestria florentina. Es werden Indiviuen in den Größen von 3 mm, 4,5 mm, 6 mm und 10 mm eingefangen, und keine davon stellt sich als S. senoculata heraus. Seit einigen Jahren ist der Autor regelmäßig in dem Hafen und konnte dort bisher keine Segestriidae nachweisen. Dass sich nun plötzlich an dieser Stelle eine gemischte Kolonie etabliert haben soll, ist unwahrscheinlich. Besonders Anfang August werden jede Menge kleiner Spinnen unter 5 mm festgestellt. Ein reifes Männchen ist jedoch nicht dabei. Auf untenstehendem Foto ist ein zusätzliche Beinpaar erkennbar. 20 Minuten nach der Aufnahme bot sich exakt das gleiche Bild. Es ist anzunehmen, dass das obere zusätzliche Beinpaar von einem Männchen stammt.


Abgrenzung zu S. senoculata und S. bavarica

S. senoculata ist in allen Größen (untersucht ab 2 mm) anhand der Bestachelung von Metatarsus I von den beiden anderen Arten gut abzugrenzen, vor allem an Präparaten. Bei lebenden Tieren sind die beiden zusätzlichen distalen Stachelpaare auch einigermaßen in lateraler Ansicht zu erkennen, wenn die Ventralseite des Metatarsus nicht zugänglich ist.

Mittlerweile wurden am Leonberger Pomeranzengarten und in der Hofener Burgruine je eine Kolonie von S. bavarica untersucht. Im Raum Stuttgart sehen sich die Individuen von Segestria florentina und S. bavarica einander tatsächlich umso ähnlicher, je kleiner sie sind. Wenn sie an die 10 mm lang sind, ist Segestria florentina in ihrer vorderen Hälfte schon deutlich dunkler und überhaupt weniger bunt, bei kleineren Tieren ist der Färbungsunterschied mit Glück noch auszumachen, jedenfalls wenn man sie nebeneinander sieht, und bei den unter 4 mm langen ist keine sichtbare Unterscheidung erkennbar.

Das Muster auf dem Opisthosoma ist unter der Lupe besser zu erkennen als auf den Fotos. Eine deutlich abgesetzte helle mittlere Trennlinie ist bei allen S. bavarica-Tieren über 4 mm zu sehen und bei keiner Segestria florentina, zudem scheinen die dunklen Flecken bei Segestria florentina breiter und mehr rautenförmig zu sein. Allerdings zeigen zwei S. bavarica-Weibchen von 10 mm und 12 mm und ein reifes Männchen von 8 mm eine gewisse Varibilität der Musterung. Leider ist dieses Muster im Freiland selten sichtbar, sodass verlässliche Aussagen zur Varibilität der Musterung hier nicht gemacht werden können. Am einfachsten dürften im Freiland ganze Kolonien zu bestimmen sein. Die Ausmaße der jeweils größten Tiere sind ziemlich aussagekräftig. Wenn auf der Wand nur winzige Wimmerl sitzen, kann man von S. senoculata ausgehen, und wenn aus einer Netzöffnung 6 lange dunkle, spaghettiähnliche Beine heraushängen, ist es Segestria florentina. Dazwischen liegt die Größe von S. bavarica. Das Vorhandensein von gemischte Kolonien ist aber letztendlich nicht völlig auszuschließen.

Fressfeinde und Beutetiere

Fressfeinde der Segestriidae sind am ehesten andere Spinnen und eventuell gelegentlich Vögel. Reptilien und Amphibien scheinen im Gebiet völlig zu fehlen, auch Spitzmäuse oder Igel wurden bisher dort nicht angetroffen. An größeren Spinnen gibt es dort selten Drassodes lapidosus und noch seltener Scotophaeus scutulatus, in sehr großer Zahl Larinioides sclopetarius und im Gleisbett der Eisenbahn viele Pardosa wagleri. Die können sicher alle Segestrien bis zu einer gewissen Größe erbeuten. Neben einem Larinioides-Netz wurde einmal eine 5-mm-Segestria als eingesponnenes Paket gefunden. Kontakte mit den anderen Arten konnten nicht beobachtet werden. Die L. sclopetarius sind andererseits eine beliebte Beute der Segestrien, wenn sie in die Nähe der Signalfäden geraten. Bei den freilebenden Tieren wurden als Beute Spinnen, Raupen, Köcherfliegen und Zuckmücken gesehen.

Netze

Für die im Haus gehaltenen Tiere werden spartanisch eingerichtete kleinen Glasterrarien verwendet. Segestria florentina webt sich auch ohne Spalten oder Röhren ihren Netzschlauch (S. senoculata scheint damit Schwierigkeiten zu haben). Die Fütterung ist unproblematisch: Schaben, Mehlwürmer, Heuschrecken und Falter werden mit Appetit verzehrt, nur Asseln werden verschmäht (wie auch im Freiland beobachtet). Nach zwei Wochen im Terrarium hat sich das größte Tier (die von den ersten Bildern in diesem Thread) gehäutet. Wasser benötigen sie nicht sehr viel. Sobald die Spinne eine konkave Kante findet, beginnt sie mit dem Netzbau und stellt schließlich einen freitragenden und beiderseits offenen Schlauch her, den sie meist nur noch verlässt, wenn Beute vorbeikommt. Die Bilder zeigen ein Weibchen, das ich im Juli 2012 mit einer Länge von 10 mm eingefangen habe. Inzwischen hat sie eine Länge von 22 mm erreicht und wächst nicht mehr, aber sonst wirkt sie gesund.

Angriffslust

Da man Segestria florentina eine gewisse Angriffslust unterstellt, werden Annäherungsversuche mit einem aufgeblasenen Latex-Handschuhfinger gemacht. Es zeigt sich, dass diese Spinnen mehr Selbstbewusstsein haben als z.B. [Eratigena atrica], die man mit derartigen Aktionen sofort vertreiben würde. Eine große Segestria will aber wohl wissen, was da vorgeht, und startet im allgemeinen etwas, was hier als "Testangriff" bezeichnen werden soll. Was die Spinne dabei genau macht, kann nicht beobachtet werden - es geht blitzschnell. Würde die Spinne kräftig zubeißen, sollte man hinterher wohl Löcher im Latex finden. Bei keinem von über zwanzig Testangriffen war dies der Fall. Fast immer berührt die Spinne den Gummifinger und zieht sich dann sofort wieder zurück. Einmal attackiert eine Spinne nicht das Testinstrument, sondern den kleinen Finger der Kamerahand. Auch dabei kommt es nur zu einer kaum wahrnehmbaren Berührung. Einmal umarmt eine Spinne den Gummifinger einige Sekunden lang mit mindestens vier Beinen, wobei man es deutlich knistern hört, aber auch danach ist keine Beschädigung des Gummifingers festzustellen. Wenn die Spinne auf den Signalfäden sitzt, kommt sie bisweilen aus einer Entfernung von annähernd 20 cm angerannt. Solche Testangriffe sind regelmäßig zu beobachten, wenn Asseln über die Signalfäden laufen. Die Asseln werden kurz berührt und dann in Frieden gelassen. Anders bei willkommener Beute, die sofort identifiziert und überwältigt wird. Woran die Spinne eine Beute erkennt, ist unklar. Die Größe allein kann es nicht sein (siehe Asseln), aber auch einen nahrhaften Geschmack muss sie nicht haben, denn eine künstliche Fliege (White Moth Dry Winged #12; natürlich ohne Haken!) wird begeistert akzeptiert und in die Wohnung geschleppt. Will man die Spinne dabei aufhalten, kommt es zu einem regelrechten Tauziehen.

Diskussion

Ob die Florentiner-Kolonie bereits im Vorjahr existiert hat, ist nicht bekannt. 2010 ist diese Stelle vom Autor genau untersucht worden, ohne besondere Spinnenaktivitäten vorzufinden. 2011 wurde das Gebiet nicht untersucht. Im Februar 2012 gab es in der Gegend strengen Kahlfrost (-13,6 ° C in Stuttgart-Neckartal am 7.2.), der in den Gärten für Erfrierungen von Pflanzen sorgte. Wenn die Spinnen das überstanden haben sollten, dürften sie kaum kälteempfindlich sein. Wahrscheinlicher ist, dass der Grundstock zur Kolonie später gelegt wurde - was für ein schnelles Wachstum der Tiere spricht. Das Nahrungsangebot ist dort nicht schlecht. Im Fluss schlüpfen massenhaft Zuckmücken oder sonstige Insekten. Es kann angenommen werden, dass sich an entsprechenden Stellen in Hafenanlagen von Rhein, Main und Neckar weitere Segestria florentina finden lassen, wenn man am richtigen Ort sucht. Das ist nur nicht so einfach, weil es viele derartige Stellen gibt, und nicht an allen sind befruchtete Segestrien von einem Schiff gestiegen. Schiffe fahren jedenfalls genug. Am Neckar ist es ruhiger, Havel und Oder wirken dagegen vergleichsweise verträumt.


Zitat

Schlegel W (2012): Beobachtungen zu Segestria florentina, 1 S.